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Ottmar Hörl

Ottmar Hörl – Konzeptuelle Kunst

 

Dieser Ausstellungsbesuch könnte Ihren Blick auf Kunst verändern, könnte Ihre Wahrnehmung auf den Kopf stellen: Ottmar Hörl wirft Kameras von Wolkenkratzern und definiert den Prozess als Skulptur. Er lässt Zeichnungen sprechen und hinterfragt das Unfassbare. Bekannt durch Großprojekte im öffentlichen Raum, die Menschen weltweit inspirieren, widmet er sich in konzeptionellen Arbeiten den fundamentalen Fragen von Kunst, Gesellschaft und Natur. Er experimentiert, analysiert, erweitert Grenzen, entwickelt neue Methoden und Werke, die radikal sind und innovativ, komplex und zugleich zugänglich. Zwischen Ironie und Absurdität, Struktur und Chaos, Wissenschaft und Poesie lotet er die blinden Flecken der Kunstgeschichte aus, zielt auf das gesellschaftsverändernde Potenzial der Kunst. Seine Entscheidung für das serielle Prinzip bildet die wesentliche Grundlage. „Hörl lässt alles offen und schließt alles ein.“, hat es Manfred Schneckenburger, ehemaliger Documenta-Leiter, prägnant auf den Punkt gebracht.

Vom 30. März bis 18. Mai 2025 zeigt die Gesellschaft der Freunde Junger Kunst e.V. in Baden-Baden eine Werkschau des erfindungsreichen deutschen Konzeptkünstlers. Die Ausstellung ist keine Retrospektive, vielmehr eine Versuchsanordnung. Sie präsentiert einen Querschnitt ausgewählter Schlüsselwerke von 1983 bis 2025 – eine Zeitreise durch Hörls konsequentes Denken in Bildern, Skulpturen und Systemen.

 

Fotografie ohne Fotografen – Bilder, die sich selbst erschaffen

Lange bevor Drohnen und KI die Welt veränderten, ließ Hörl Kameras durch Raum und Zeit fliegen. Er warf sie aus Flugzeugen, Hochhäusern und Drahtseilgondeln, befestigte sie an Akkuschraubern, Auto- und Fahrradreifen oder setzte den Prozess durch den Wurf eines Hammerwerfers in Gang. Anstatt durch den Sucher zu blicken, stattete er Kameras mit Transportmotoren aus, damit diese selbsttätig bis zu 3,5 Aufnahmen pro Sekunde fotografierten. Die Apparate dokumentierten ihren Flug bis zum Aufprall. „Die von der Kamera selbsttätig produzierten Aufnahmen sind frei von Gefühlen, Vorurteilen und bewusstem oder unbewusstem Sehen“, betont Hörl. Mittels dieser, von ihm entwickelten Methode automatisierter, entindividualisierter Bildproduktion gelangen ihm objektive gestalterische Lösungen – in Perspektiven, die sich gängiger Bewertungskategorien entziehen. Die Methode ändern, um neue Bilder zu schaffen. Bildserien wie Die große Diagonale I – Hommage à Beckmann (1983), Horizontale Rotation I (1983) oder Die große Vertikale VI (1993) sind dementsprechend dem chronologischen Ablauf präsentiert.

 

Serielle Idee – Akzeptanz des Materials

„Was kann ein Lego-Stein und was kann er nicht? Wie kann man aus Legosteinen eine vernünftige Skulptur bauen, die nicht sofort an Lego erinnert?“ Im Unterschied zu traditionellen Bildhauern entstehen Hörls Arbeiten nicht aus klassischen Kunstmaterialien, sondern aus Dingen, die uns täglich begegnen. Baumarktprodukte, Plastikpaletten, Leerrohre – durch minimale Eingriffe verwandelt er sie in Kunstwerke, die unsere Denk- und Sehgewohnheiten unterlaufen. Er arbeitet materialimmanent, lotet das Potenzial eines Materials aus, akzeptiert es in seiner Gesamtheit. „Die Entscheidung für die serielle Idee führte dazu, dass ich Teile für meine Objekte im Großhandel kaufte, nicht mehr bearbeitete, sondern in eine neu gedachte Konstellation überführte“, so Hörl. Eastriver (1990), bestehend aus vier Kunststoffpaletten, an der Wand montiert in der Form eines Triptychons, entwickelt noch nie gesehene Referenzen zu Altarbildern, lässt sich zugleich als Fortsetzung der konstruktivistischen Idee lesen. Einem vergleichbaren Konzept folgen auch Arbeiten wie die Skulpturen im Gordischen Stil (seit 1997) oder die Black Stones (2009), Skulpturen in Diamantenform aus Tausenden von Legosteinen.

 

Alles oder Nichts – Welterklärungsmodelle

Um das „Gesamtbild einer Idee in ihrer Totalität“ zu visualisieren, entwickelte Hörl das Konzept der Werkserien mit Populationen. Es folgt dem Prinzip radikaler Konsequenz – eine Entscheidung, „alles oder nichts“ zu nehmen. In Population II, Europäische Singvögel (1994) überträgt Hörl die wissenschaftliche Erfassung von Vogelstimmen auf die Ebene der Kunst. Die abstrahierte Lautsprache, wie sie Ornithologen mittels unseres Alphabets dokumentieren, offenbart eine eigene poetische Qualität bis hin zur Absurdität. Die Auseinandersetzung mit Welterklärungsmodellen, die komplexe wissenschaftliche Sachverhalte und Zusammenhänge in Form neuer ästhetischer Lösungen auf den Punkt bringen, spiegelt sich in zahlreichen Konzepten des Künstlers – von den durchgezeichneten Schablonenzeichnungen wie Standardgraph 1164, Ellipsensatz (1992) bis zu den Formelsammlungen zur Bewegung zweistufiger Raketen im Weltraum (1998) oder den Strukturformeln für Farben. „Da man im Allgemeinen nicht weiß, was Indigo oder Diamingrün für ein Ton ist, hat der Betrachter die Freiheit, sich dieses Blau oder dieses Grün so vorzustellen, wie es ihm angenehm ist. Ich schaffe ein monochromes Bild, ohne dass es da ist.“ Hörl schafft Modelle, die an unserer Wahrnehmung rütteln. Er überführt Wissenschaft in Kunst, bringt Strukturen ans Tageslicht und hält der Gesellschaft den Spiegel vor – wortwörtlich.

 

Kunst und Gesellschaft und eine Rede, die noch nie gehalten wurde

Seit 1997 arbeitet der Künstler an der Rede an die Menschheit, einer mehrteiligen, raumgreifenden, variablen Installation „in progress“, deren Kernelemente aus unbeschriebenen Blättern zwischen Buchdeckeln und Aktenordnern in Regalen bestehen. Laut Hörl geht es „dabei um die Vorstellung, dass kompetente und verantwortliche Experten von Zeit zu Zeit eine Rede an die gesamte Menschheit halten würden – eine Rede über den tatsächlichen Zustand der Welt, in Form einer Zusammenfassung aller relevanten Probleme, die gelöst werden müssen, um gemeinsam das Überleben der gesamten Menschheit zu gewährleisten.“ Eine zeitlose Arbeit, heute aktueller denn je.

1998 konservierte Hörl 15 Bestseller in schwarzem Isolierband – alles Bücher der Bestsellerliste der Zeitschrift Der Spiegel, Ausgabe 36 – und transformierte diese auf Aluminiumkonsolen in eine neue, dreidimensionale, ästhetische Arbeit, die zur Auseinandersetzung mit dem Zugang zu und der Demokratisierung von Literatur, Kunst und Kultur sowie deren Verbreitungsmechanismen ebenso nachdenken lässt.

UNSCHULD (seit 1997) ist ein kleines Kunstobjekt, doch von erstaunlicher Wirkungskraft, ein Seifenobjekt mit dieser Inschrift in schwarzer Kunststoffdose. Die Vergegenständlichung des Pilatus-Ausspruchs „Ich wasche meine Hände in Unschuld“, mit einer konzeptionellen Limitierung von 82 Millionen, entsprechend der damaligen Einwohnerzahl Deutschlands, ist seit seinem Erscheinen in über 60.000 Händen. Es gilt als eine Ikone der Multiple-Kunst des 20. Jahrhunderts – eine Reflexion über Schuld, Moral, Fehlerkultur und die Geste des Händewaschens, ein Kunstwerk, das zugleich die Idee der Demokratisierung auf die Spitze treibt.

 

Vorstellbares und Unvorstellbares

Hörls Gesamtwerk ist interdisziplinär, vielschichtig und von dem Anspruch an Erfindungskraft geprägt. Es umfasst unterschiedlichste Materialien und Kunstgattungen, darunter Zeichnungen und Malerei. So macht Hörl die Rezeption, die Betrachtung und Wahrnehmung von Kunst an sich ist immer wieder zum Thema. Dabei wird unsere Fantasie, unsere Vorstellungskraft herausgefordert. Die Arbeit Alexander von Humboldt: Naturgemälde (2008) entwickelte sich aus der Idee, einerseits ein Weltgemälde zu schaffen und zugleich eine symbolische Darstellung, wie in uns ganz eigene Bilder entstehen. „Vorstellung, Fiktion und Vision“ waren die Aspekte, die Hörl interessierten, mittels eines Textes von Humboldt auf Leinwand in ein Naturgemälde zu verwandeln. 

Ein Spannungsverhältnis zwischen Sprache und Vorstellung entwickelt sich ebenfalls durch die Sound-Installation mit Tonkassetten in Kassettenrecordern mit dem Titel Zeichnung spricht (2022), indem sich die Kunst selbst als Zeichnung repräsentiert – als eine Sprachform, die den Moment ihres Entstehens akustisch dokumentiert und Besucherinnen und Besuchern mitteilt. 

Die Heisenberg Paraphrasen (2025), neueste Arbeiten der Ausstellung, sind der Quantenwelt auf der Spur – eine Metapher für das Unvorstellbare, das Unfassbare, für eine Welt, die uns letztlich in ihren tiefsten Dimensionen ein Rätsel, verborgen bleibt und dennoch immer wieder staunen lässt.

 

Kurzbiografie

Ottmar Hörl (*1950) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main und Wertheim. 1985 gründete er mit den Architekten Gabriela Seifert und Götz Stöckmann die interdisziplinäre Gruppe Formalhaut. Bis 2018 lehrte er als Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg und leitete die Institution bis 2017 als Präsident. Hörls Werk wurde mit Preisen wie dem art-Multiple-Preis, dem Wilhelm-Loth-Preis, dem intermedium-Preis oder dem CREO-Preis ausgezeichnet. Seine Arbeiten sind in bedeutenden öffentlichen Sammlungen vertreten, wie dem Museum für Moderne Kunst in Frankfurt a. M., der Albertina Wien, dem Daegu Art Museum in Südkorea oder dem San Francisco Museum of Modern Art in den USA.

Weitere Informationen: www.ottmar-hoerl.de

 

 

1988-Sightseeing
1998-Skulptur im Gordischen Stil-Werner Scheuermann (7)